Parallel zur Befragung von mehr als 8000 jungen Europäerinnen und Europäern für die Jugendstudie hat die TUI Stiftung gemeinsam mit dem iRights.Lab das Projekt „Young Europe“ durchgeführt. Junge Deutsche zwischen 16 und 26 Jahren wurden aufgerufen, ihre Vorstellungen von der Zukunft Europas zu artikulieren – per Text, Foto, Video oder Audiomessage. Innerhalb von wenigen Wochen beteiligten sich mehr als 100 junge Menschen. Einige von ihnen wurden von der TUI Stiftung zu Workshops nach Berlin eingeladen. Die dabei konzipierte Charta zum Thema Europa wird im Sommer vorgestellt. Mit der „Charta of Young Europe“ zeigen die jungen Menschen kurz vor der Europawahl, welche Themen ihnen wichtig sind. In der Präambel schreiben sie: „Mit dieser Charta wollen wir einen konkreten wie auch idealistischen Anstoß geben für die europäische Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Wir glauben, dass wir nur mutig und vereint eine lebenswerte Zukunft gestalten können.“ Von einem „Amt für Würde“ in der EU, über stärkeres Engagement für den Umweltschutz bis zur Forderung nach „kulturellen und sprachlichen Austauschprogrammen“ oder nach der Errichtung eines europäischen Kompetenzzentrums für die gesellschaftlichen Aspekte der Digitalisierung zeigen die jungen Menschen, dass sie eigene konkrete Vorstellungen von der Zukunft Europas haben.
Hier finden Sie die Charta zum Download.
Charta of Young Europe
Präambel
Die Jugend interessiert sich nicht für Politik. Das wird uns zumindest nachgesagt. Diese Charta zeigt: Wir sind die Zukunft – und wir wollen sie mitgestalten.
Wir sind junge Menschen aus Europa und politisch interessiert. Online und in Workshops haben wir unsere Visionen von Europa formuliert. Uns ist bewusst: Wir sprechen nicht für ganz Europa; unsere Hoffnungen und Wünsche sind gefärbt von unseren Leben in Deutschland. Eine Charta von Jugendlichen eines anderen europäischen Landes – sie könnte ganz anders aussehen.
Mit dieser Charta wollen wir einen konkreten wie auch idealistischen Anstoß geben für die europäische Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Wir glauben, dass wir nur mutig und vereint eine lebenswerte Zukunft gestalten können.
1 – Wir müssen die Menschenrechte greifbar machen
Das Grundgesetz schreibt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sie bleibt oft aber auch abstrakt und ungreifbar. Das müssen wir ändern.
- Das Amt für Würde setzt sich kommunikativ und differenziert mit den Menschen Europas auseinander. Ziel ist es, sie über ihre Rechte aufzuklären und diese durch konkrete Angebote zu stärken.
- Das Amt schickt Mitarbeiter*innen in öffentliche und private Einrichtungen. Mit Workshops, Vorträgen und Diskussionen werden die Ziele der Europäischen Union vorgestellt und inhaltlich aufbereitet.
- Das Amt fördert Vereine und Projekte, die sich für Menschenrechte einsetzen. Vor allem das Ehrenamt profitiert von den hier angebotenen Förderprogrammen.
- Eine Bildungsreform bringt Menschen so früh wie möglich die Menschenrechte nah.
- Wir fordern eine geschlechterneutrale und LGBTTQI-freundliche Sprache an unseren Schulen.
- Der Würdeunterricht setzt sich mit gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Fragen auseinander. Das Fach fördert Selbstreflexion und Toleranz.
- In diesen Stunden werden externe Expert*innen und Freiheitsaktivist*innen eingeladen.
Einer der Grundgedanken der europäischen Gemeinschaft ist, die Menschenrechte anzuerkennen, zu wahren und weltweit zu fördern. Das geschieht nicht nur durch Worte, sondern vor allem auch durch unser politisches Handeln. Die Menschenrechte müssen von abstrakten Werten zur gelebten gesellschaftlichen Realität werden.
2 – Der Schutz unserer Umwelt ist von höchster Priorität
Der Klimawandel birgt eine große Gefahr, nicht nur für das zukünftige Europa, sondern für die gesamte Welt. Ohne entsprechende Maßnahmen sehen wir uns zukünftig kaum zu bewältigenden Herausforderungen ausgesetzt.
- Investition in regenerative Energien tragen zum Schutz des Klimas und der Umwelt bei. Dazu zählen
- die Verbesserung der Nutzungsmöglichkeiten von bereits vorhandener regenerativer Energie,
- das Schaffen von effizienten Möglichkeiten, regenerative Energien zu speichern,
- sowie ein zeitnaher und verantwortungsvoller Verzicht auf Atom- und Kohleenergie.
- Zugleich gilt es, die Treibhausgasemissionen im Verkehr zu verringern. Das bedeutet
- eine starke Senkung der Kosten bei der Nutzung von öffentlichem Nahverkehr,
- staatliche Subventionierung von PKWs und LKWs, die ohne fossile Brennstoffe laufen,
- höhere Besteuerung nicht-regenerativer Energien,
- und intensivere Forschung an klima- und umweltfreundlichen Technologien für den Schiffsverkehr.
- Mit dem Klimawandel und seinen Folgen steht die Ernährung der Weltbevölkerung in unmittelbarem Zusammenhang. Sie ist sicherzustellen, ohne dabei den Klimaschutz zu vernachlässigen. Das wird erreicht durch
- die Illegalisierung der Massentierhaltung,
- die Subventionierung nachhaltiger, ökologischer und ethischer Landwirtschaft, insbesondere der Viehzüchtung,
- das Unterbinden der Abholzung von Urwaldbeständen für die Nahrung der Tiere,
- die Abschaffung von Monokulturen und die Förderung einer ökologischen Fruchtfolge (zum Beispiel durch Permakulturen).
Als europäische Gemeinschaft stehen wir in der Verantwortung, dem Klimawandel entgegenzuwirken. Die Bewältigung der genannten Aspekte ist eine sehr große Herausforderung und fordert ein fundamentales Umdenken unserer Konsumgesellschaft. Wenn wir dieses Umdenken nicht sofort einleiten, wird es verheerende Folgen für uns und die kommenden Generationen haben.
3 – Unsere Unterschiede stärken unsere Identität
Eine europäische Identität bedeutet nicht, kulturelle Vielfalt aufzugeben. Sehr wohl aber, Nationalismus abzulehnen. Nur an sich zu denken – das ist zu kurzsichtig.
- Dafür benötigen wir kulturelle und sprachliche Austauschprogramme zusätzlich zu bestehenden Programmen wie Interrail und Erasmus. Sie stärken die europäische Bindung.
- Wir müssen Mittel und Wege schaffen, eine europäische Identität zu fördern – und gleichzeitig die eigene zu stärken. Denn eine europäische Identität bedeutet nicht, die eigene zu verlieren. Ganz im Gegenteil: Erst wenn wir wissen, wer wir sind, können wir sagen, was wir sein wollen.
- In Zeiten zunehmender Krisen und Bedrohungen muss sich die Europäische Union als solidarische Gemeinschaft verstehen, um den existierenden Frieden innerhalb der Europäischen Union zu wahren und als Friedensvermittler in außereuorpäischen Krisen aufzutreten.
Wir wollen, dass jede Kultur und Sprache in Europa weiter existiert und unterstützt wird. Gerade wegen unserer Vielfalt lernen wir mehr über unsere Gemeinsamkeiten. Wir wünschen uns, dass in Europa ein Netz aus Freundschaften entsteht. Wir sagen: Den großen Herausforderungen unserer Zeit stellen wir uns am besten gemeinsam.
4 – Auf Reisen erleben wir die europäische Idee
Die europäische Idee ist keine Idee, die man aus Büchern lernt oder in Vorträgen hört. Europa ist mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Wir glauben: Europäische Vielfalt muss man erleben.
- Wir fordern – zusätzlich zu den bereits bestehenden und ausgeweiteten Programmen – eine weitere gezielte finanzielle Förderung von europäischen Austauschprojekten: Sie machen die Vorteile der Europäischen Union sicht- und greifbar.
- Wir brauchen einheitliche Ausweisdokumente. Denn nur so wird aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl auch ein offizielles Dokument – ein Symbol der gemeinsamen Identifikation aller Europäer*innen.
Durch den europäischen Austausch beschäftigten wir uns wieder aktiv mit der Frage, welche Geschichte wir von Europa erzählen wollen. Wir müssen ein Narrativ schaffen, welches auf Begegnungen zwischen Europäer*innen aufbaut – und nicht nur auf ideellen Mutmaßungen.
5 – Bildung macht uns zur erfolgreichen Gemeinschaft
Geringe Wahlbeteiligung bei den Europawahlen, mangelndes Wissen über die Europäische Union, fehlende Grundkompetenzen im MINT-Sektor: Gute Bildung ist eine wichtige Voraussetzung für die Lösung dieser Probleme und stellt zugleich ein Menschenrecht dar.
- Die Schaffung eines EU-Fonds zur gezielten Förderung von MINT- und Sprachunterricht im Rahmen der Schulbildung stärkt die Verständigung der Menschen in Europa und die Auseinandersetzung mit den für die Zukunft wichtigen Themen Digitalisierung und Klimaschutz.
- Es ist notwendig, eine vielfältige (nicht hauptsächlich nationalstaatliche) Perspektive auf den Themenkomplex Europa im Lehrplan des Politikunterrichts in allen EU-Nationen zu verankern.
- Der Ausbau der Volkshochschulstrukturen ermöglicht breitere und kostengünstigere Lernangebote für alle.
- Durch die Einrichtung einer Lotterie nach dem Modell der Interrailverlosung können Erwachsene Bildungsreisen unternehmen.
Bildung ist die Grundlage dafür, dass die Idee der Europäischen Union nachhaltig in der Gesellschaft verankert wird und auch in der Zukunft weiterlebt.
6 – Die Wirtschaft dient uns Menschen
Wir finden Wirtschaft wichtig. Sie muss aber den Menschen dienen, nicht den Konzernen. Geld arbeiten zu lassen, ist keine Arbeit. Der Finanzmarktkapitalismus verzerrt die Marktwirtschaft.
- Wir fordern die Einkommenssteuer zu senken und Freibeträge zu erhöhen, um mittlere und niedrige Einkommen zu entlasten.
- Eine europaweit einheitliche, progressive Konzernbesteuerung stellt sicher, dass jedes Unternehmen seinen fairen Anteil zum Gemeinwesen beiträgt.
- Wir wollen den zivilgesellschaftlichen Lobbyismus stärken und so dafür sorgen, dass Europa bürgerfreundlicher wird und alle Interessen in Brüssel Gehör finden.
- Ein europaweiter Mindestlohn gleicht die Wirtschaftsräume an.
Als europäische Gemeinschaft ist uns eine gemeinsame und kohärente Wirtschaftspolitik wichtig. Sie soll auch dazu beitragen, dass sich die Lebensqualität in den einzelnen EU-Staaten weniger unterscheidet. Kein Land soll durch die nationalen oder europäischen Interessen in seiner ökonomischen Entwicklung beeinträchtigt werden.
7 – Die Digitalisierung ist unsere Zukunft
Der Erfolg einer europäischen Digitalwirtschaft ist möglich, wenn wir vereint am selben Strang ziehen. Nur dann bleibt die europäische Gemeinschaft international konkurrenzfähig und schafft einen Rahmen, in dem die Digitalisierung der Gesellschaft nutzt.
- Um Innovations- und Wettbewerbsförderung im digitalen Sektor voranzutreiben, sind Investitionen in Forschung und Standardisierung notwendig. Das ist möglich durch
- eine verstärkte finanzielle Förderung von Forschung (zum Beispiel Künstliche Intelligenz, Datenmanagement), Start-Ups und Wissensaustausch,
- eine Standardisierung auf internationaler Ebene für die Industrie 4.0 (Cloudbased Technologies, Internet of Things),
- sowie den Ausbau einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur.
- Die Bevölkerung muss in der Lage dazu sein, reflektiert mit technologischen Neuerungen umzugehen. Dafür brauchen sowohl sie als auch die Politik die notwendigen Kompetenzen.
- Die Errichtung eines Kompetenzzentrums, in dem Expert*innen aus zahlreichen Fachrichtungen – beispielsweise Wirtschaft, Ethik, Soziologie und Recht – gemeinsam forschen und beraten, schafft eine Grundlage für den Austausch von Wissen über verschiedene Disziplinen hinweg. Wichtig ist uns, dass die Expert*innen nicht nur die Politik beraten, sondern auch den Austausch mit den Menschen in den EU-Ländern suchen.
- Die Förderung von Digital- und Medienkompetenzen hilft Menschen bei einem verantwortungsvollen und informierten Umgang mit digitalen Angeboten und klärt über sinnvolle Nutzung und Herausforderungen unter anderem in den Bereichen Social Media, Künstliche Intelligenz und Algorithmen auf.
Die europäische Gemeinschaft muss sich stärker mit der Digitalisierung auseinandersetzen – auf wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene. Die Politik darf nicht nur reagieren, sondern muss aktiv und gemeinschaftlich gestalten.